Europäischer Gerichtshof: Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen

Wilfried Pecka, 29.08.2013

In der Europäischen Union gibt es über 50 Millionen Menschen mit Behinderungen. Das entspricht etwa 10% der Gesamtbevölkerung. Die Europäische Union räumt der Gleichberechtigung und dem Vorgehen gegen die Diskriminierung behinderter Menschen einen sehr hohen Stellenwert ein, und sie baut dafür auf drei Säulen auf: Rechtsvorschriften und Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen, Beseitigung von Barrieren, und Verbesserung von Zugänglichkeiten, die eine aktive Eingliederung von Menschen mit Behinderungen erleichtern. Bereits im EG-Vertrag wurde dazu eine Kann-Bestimmung aufgenommen: "Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen dieses Vertrags kann der Rat im Rahmen der durch den Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen". Diese Bestimmung wurde danach mit einer Reihe von konkretisierenden Bestimmungen ausgestaltet. Dazu gehört etwa die EU-Richtlinie 2000/78/EG ("Beschäftigungsrahmen-Richtlinie" zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf). 

EU-Richtlinien wirken aber (im Gegensatz zu EU-Verordnungen) nicht unmittelbar für die Betroffenen, sondern sie verpflichten die einzelnen Mitgliedsstaaten der EU, entsprechende Gesetze zu erlassen. Kommt ein Mitgliedsstaat dieser Verpflichtung nicht nach, so kann die Europäische Kommission das säumige Land vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. Das ist kürzlich der Republik Italien passiert: Die Republik Italien habe bisher verabsäumt, "angemessene Vorkehrungen zu treffen, um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufs, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen". Es gebe in Italien zwar manche Garantien und Erleichterungen. "Diese Garantien und Erleichterungen beträfen jedoch nicht alle Menschen mit Behinderung, bestünden nicht zu Lasten aller Arbeitgeber, bezögen sich nicht auf alle verschiedenen Aspekte des Arbeitsverhältnisses oder hätten einen rein programmatischen Inhalt". Die EU-Mitgliedsstaaten müssen vielmehr alle Arbeitgeber verpflichten, "praktikable und wirksame Maßnahmen zugunsten aller Menschen mit Behinderungen zu ergreifen". Viele italienische Rechtsvorschriften ermächtigen aber nur zum Abschluss besonderer Vereinbarungen (etwa zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften). Somit räumen diese Rechtsvorschriften den Menschen mit Behinderungen aber keine unmittelbaren Rechte ein, die sie bei einem Gericht geltend machen könnten.

Der Europäische Gerichtshof hat die Republik Italien am 04. Juli 2013 verurteilt (Rechtssache C-312/11), weil er zum Schluss gekommen ist, dass die Republik Italien bisher nur unzureichende Garantien und Vorkehrungen getroffen hat, um die Beschäftigungsrahmen-Richtlinie ordnungsgemäß umzusetzen: "Die Italienische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtung zur ordnungsgemäßen und vollständigen Umsetzung von Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf verstoßen, dass sie nicht allen Arbeitgebern auferlegt hat, für alle Menschen mit Behinderungen die im konkreten Fall erforderlichen und angemessenen Vorkehrungen zu treffen".

Der EuGH hat sich in diesem Verfahren auch mit dem Begriff der Behinderung beschäftigt, wofür er unter Anderem die UN-Behindertenkonvention herangezogen hat: Nach diesem Übereinkommen sei der Begriff so zu verstehen, dass damit langfristige physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen erfasst sind. Weiters verwies der EuGH auf sein kürzliches Urteil vom 11. April 2013, welches sich mit einem Vorabentscheidungsansuchen des dänisches Höchstgerichtes befasste. In diesem Verfahren ging es um die Frage, ob längerfristig erkrankte Arbeitnehmer bereits unter den Begriff "Menschen mit Behinderung" einzustufen sind und daher unter den entsprechenden gesetzlichen Schutz fallen. In einem Fall lag ein Schleudertrauma vor, im anderen Fall chronische Rückenschmerzen. In beiden Fällen machten die Arbeitgeber von einer im dänischen Recht vorgesehenen Bestimmung Gebrauch, nach welcher ein Arbeitnehmer ab einer bestimmten Anzahl von Fehltagen mit einer verkürzten Kündigungsfrist gekündigt werden darf. Die dänische Gewerkschaft, welche die beiden Arbeitnehmerinnen vertrat, machte geltend, dass bei beiden eigentlich eine Behinderung vorgelegen habe. 

Im Urteil C-335/11 vom 11. April 2013 hat der EuGH dazu festgestellt: "Der Begriff „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass er einen Zustand einschließt, der durch eine ärztlich diagnostizierte heilbare oder unheilbare Krankheit verursacht wird, wenn diese Krankheit eine Einschränkung mit sich bringt, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können, und wenn diese Einschränkung von langer Dauer ist". Weiters sei die Richtlinie 2000/78/EG dahin auszulegen, "dass die Verkürzung der Arbeitszeit eine der in dieser Vorschrift genannten Vorkehrungsmaßnahmen darstellen kann"

Beide EuGH-Urteile stärken somit die Rechte von Arbeitnehmern mit langfristigen oder schwerwiegenden chronischen Erkrankungen:

- Im Fall "Italien" wird kein Zweifel offen gelassen, dass EU-Mitgliedsstaaten beim Europäischen Gerichtshof geklagt und auch verurteilt werden, wenn sie mit der Behindertenpolitik säumig sind.

- Im Fall "Dänemark" wird klar gestellt, dass der Behindertenbegriff sehr weit zu fassen ist. Auch chronische Erkrankungen können vom Behindertenbegriff umfasst sein, so dass die davon Betroffenen ebenfalls den gesetzlichen Behindertenschutz in Anspruch nehmen können. Die dänischen Arbeitgeber hätten daher an Stelle einer Kündigung eine verkürzte Arbeitszeit anbieten müssen. 

- Für Langzeiterkrankte kann genauso wie für Menschen mit einer Behinderung ein besonderer Kündigungsschutz und ein Anspruch auf einen entsprechend adaptierten Arbeitsplatz bestehen.
 

 © Wilfried Pecka