EuGH: Rücktrittsrechte bei deutschen Lebensversicherungsverträgen

Wilfried Pecka, 12.01.2014

Ein deutscher Versicherungskunde schloss im Jahr 1998 einen Lebensversicherungsvertrag in Form eines Rentenversicherungsvertrages ab. Neun Jahre später teilte der Kunde der Versicherung seine Kündigung dieses Vertrages mit. Die Versicherung zahlte dem Kunden den Rückkaufswert aus, welcher aber unter dem Gesamtbetrag der einbezahlten Prämien lag. Daraufhin übte der Versicherungskunde sein Widerspruchsrecht gemäß dem damals geltenden § 5a des deutschen Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) aus: Ihm seien beim damaligen Abschluss des Versicherungsvertrages nicht alle gesetzlich vorgeschriebenen Unterlagen (Versicherungsbedingungen, Verbraucherinformation) ausgefolgt worden. Da der Lauf der Widerspruchsfrist erst dann beginnt, sobald ihm alle diese Unterlagen vollständig vorliegen, sei er nach wie vor zu einem solchen Widerspruch berechtigt. Aus diesem Grund verlangte er von der Versicherung, ihm sämtliche von ihm einbezahlten Prämien abzüglich des bereits an ihn ausbezahlten Rückkaufswertes zurückzuzahlen.

§ 5a des deutschen VVG enthielt damals jedoch zu diesem Widerspruchsrecht eine zeitliche Einschränkung, indem das Recht auf Widerspruch jedenfalls ein Jahr nach der Zahlung der ersten Prämie erlischt (und zwar auch dann, wenn die Unterlagen nicht ordnungsgemäß ausgefolgt wurden). Aus diesem Grund lehnte die Versicherung die Rückerstattung der einbezahlten Prämien ab. Der Kunde klagte. Das erstinstanzliche Gericht schloss sich der Meinung des Versicherungsunternehmens an und wies die Klage ab. Auch das Berufungsgericht war der selben Ansicht, worauf der Kunde beim Bundesgerichtshof Revision einlegte. Dieses setzte das Verfahren aus und richtete an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) im Rahmen einer Vorabentscheidung die Frage, ob die zeitliche Einschränkung des Widerspruchsrechts der zweiten und dritten EU-Lebensversicherungsrichtlinie entgegen stehen könnte.

Der EuGH setzte sich im Verfahren C-209/12 bei der Prüfung dieser Fragen intensiv mit den EU-Lebensversicherungsrichtlinien und deren Erwägungsgründen auseinander. So lautet etwa der 23. Erwägungsgrund der dritten EU-Lebensversicherungsrichtlinie, dass im „Rahmen eines einheitlichen Versicherungsmarkts … dem Verbraucher eine größere und weiter gefächerte Auswahl von Verträgen zur Verfügung stehen wird“ und dass er, „[u]m diese Vielfalt und den verstärkten Wettbewerb voll zu nutzen, … im Besitz der notwendigen Informationen sein [muss], um den seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrag auszuwählen“. Im Hinblick darauf müssen dem Versicherungsnehmer vor dem Vertragsabschluss zumindest die Modalitäten seines Widerrufs- und Rücktrittsrechtes mitgeteilt werden. Daneben setzte sich der EuGH auch mit weiteren Erwägungsgründen und der Frage auseinander, wie weit sich der Versicherungskunde beim Abschluss eines komplexen Finanzproduktes gegenüber dem Versicherungsunternehmen in einer schwächeren Position befindet. 

Die Einwände des beklagten Versicherungsunternehmens, dass ein zeitlich unbegrenztes Rücktrittsrecht des Versicherungsnehmers zu Rechtsunsicherheiten führen würde, wurden vom EuGH mit dem Verweis auf eine bereits früher ergangene Entscheidung verworfen, "dass ein Verbraucher das Widerrufsrecht nicht ausüben könne, wenn es ihm nicht bekannt sei, und dass daher aus Gründen der Rechtssicherheit eine Beschränkung des Zeitraums, in dem das Widerrufsrecht nach der Richtlinie 85/577 ausgeübt werden könne, nicht gerechtfertigt sein könne, weil dies eine Einschränkung der Rechte impliziere, die dem Verbraucher ausdrücklich verliehen worden seien, um ihn vor den Gefahren zu schützen, die sich daraus ergeben, dass Kreditinstitute bewusst Verträge außerhalb ihrer Geschäftsräume abschlössen". Bei dieser Entscheidung ging es zwar nicht um Versicherungsverträge, sondern um Veranlagungsprodukte, welche außerhalb der Geschäftsräume der Bank abgeschlossen wurden. Allerdings hielt der EuGH die Fälle hinsichtlich des Ausmaßes der Gefahren für den Kunden für vergleichbar. Weiters wies der EuGH mit einer bemerkenswerten Strenge den Antrag des beklagten Versicherungsunternehmens ab, zumindest die zeitlichen Wirkungen eines etwaigen Urteils zu Lasten des Versicherungsunternehmens zu begrenzen, weil sonst in Deutschland über 108 Millionen Versicherungsverträge mit einem Gesamtprämienvolumen von über 400 Milliarden Euro betroffen sein könnten, welche in Deutschland im Zeitraum zwischen den Jahren 1995 bis 2007 abgeschlossen wurden. Somit hat der EuGH am 19.12.2013 in seinem Urteil zu C-209/12 entschieden, dass "Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 90/619/EWG [...] dahin auszulegen [ist], dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der ein Rücktrittsrecht spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie erlischt, wenn der Versicherungsnehmer nicht über das Recht zum Rücktritt belehrt worden ist".

Die Bestimmung des § 5a im deutschen VVG ist in der Zwischenzeit (nämlich Anfang 2008) außer Kraft getreten. Aus diesem Grund sind nun von diesem EuGH-Urteil alle Lebensversicherungsverträge in Deutschland betroffen, die im Zeitraum zwischen 1995 und 2007 abgeschlossen wurden. Sollten in diesem fraglichen Zeitraum die Kunden beim Versicherungsabschluss nicht ordnungsgemäß über ihr Rücktrittsrecht belehrt worden sein, so steht ihnen das Rücktrittsrecht nach wie vor offen (weil sie ja nicht ein Recht verlieren können, über das sie noch gar nicht informiert worden sind). Laut einer Aussendung des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GdV) seien aber nun nicht automatisch alle Lebensversicherungsverträge davon betroffen, welche im fraglichen Zeitraum abgeschlossen wurden: Immerhin hätten ja auch damals die Kunden die vorgeschriebenen Unterlagen vollständig erhalten und seien ordnungsgemäß über ihr Widerspruchsrecht belehrt worden. Obwohl die Rechtslage in Österreich ein wenig anders ist wie in Deutschland, sind Auswirkungen dieses EuGH-Urteils auch auf in Österreich abgeschlossene Versicherungsverträge nicht auszuschließen: In Österreich wurde erst im Jahr 2012 in das österreichische VersVG eine dem geltendem EU-Recht entsprechende Bestimmung aufgenommen, dass Verbrauchern das Rücktrittsrecht unbefristet zusteht, sofern sie nicht ordnungsgemäß über ihr Rücktrittsrecht belehrt wurden (§ 165a Abs 2a VersVG). Somit wäre der problematische Zeitraum in Österreich noch länger wie in Deutschland.
 

 © Wilfried Pecka