Unfallversicherung: Beurteilung
des Invaliditätsgrades individuell oder nach einer Durchschnittsperson? Wilfried Pecka, 05.07.2013 Der Kläger hatte bei der Beklagten eine Unfallversicherung abgeschlossen, die unter Anderem eine Entschädigungsleistung für Dauerfolgen nach einem Unfall zu erbringen hat. Beim Abladen von Holzplatten verletzte er sich am linken Knie, an welchem dadurch eine dauerhafte Bewegungseinschränkung zurück blieb: Er konnte seitdem das linke Knie um 20% weniger beugen wie das rechte. Aus diesem Grund verlangte er von seiner Unfallversicherung eine Entschädigung, was von der Versicherung aber abgewiesen wurde: Der Gutachter der Versicherung habe festgestellt, dass das linke Knie uneingeschränkt beweglich sei. Darauf hin brachte der Verletzte eine Klage gegen die Versicherung ein. Das Gericht erster Instanz gab dem Kläger teilweise recht und verurteilte die Versicherung zu einer Zahlung (welche allerdings geringer war als die ursprüngliche Forderung: Das Mehrbegehren wurde abgewiesen). Das Berufungsgericht bestätigte zwar den Teil der Abweisung, hob aber den der Klage statt gebenden Teil des Urteils auf und verwies das Verfahren zur Verfahrensergänzung zurück in die erste Instanz: Der Gutachter hatte in seinem Gutachten das verletzte Knie mit dem unverletzten Knie des Klägers verglichen. Dieses konnte der Kläger aber in Vergleich zu anderen Menschen in seinem Alter überdurchschnittlich stark beugen (und ist der Gutachter davon ausgegangen, dass er auch das verletzte Knie vorher in diesem Ausmaß beugen konnte). Allerdings hätte der Gutachter nach Auffassung des Berufungsgerichtes die Bewegungseinschränkung des verletzten Knies nicht an der überdurchnittlichen Beweglichkeit des Klägers, sondern an einer "abstrakten Vergleichsperson" messen müssen. Darüber habe die erste Instanz aber keine Feststellungen getroffen und sei daher das Verfahren in dieser Hinsicht zu ergänzen. Gegen diesen Aufhebungsbeschluss brachte der Kläger einen Rekurs an den Obersten Gerichtshof ein, welcher in 7 Ob 47/13g darüber folgendermaßen entschied: Der
Oberste Grichtshof ließ den Rekurs zu, und er gab dem Rekursbegehren auch
statt: "Die von der Beklagten [Anmerkung: Der Versicherung] gewünschte
Einschränkung, dass bei der Beurteilung einer teilweisen
Funktionseinschränkung auch in medizinischer Hinsicht nur von einem
durchschnittlichen Versicherten auszugehen ist, findet im Text der AVB
[Anmerkung: Der Versicherungsbedingungen] keine Deckung". Gleichzeitig
ging der OGH auch auf die deutsche Rechtslage zu diesem Thema ein: "Auch
dort wird aber - im Gegensatz zur Rechtsmeinung der Beklagten - nicht die von
ihr geforderte, strikt vom durchschnittlichen Versicherungsnehmer ausgehende
Beurteilung vertreten. Überwiegend besteht die Ansicht, dass dauerhafte
Beeinträchtigungen der körperlichen oder der geistigen Leistungsfähigkeit am
Maßstab der Leistungsfähigkeit einer durchschnittlichen, gesunden Person
gleichen Alters zu beurteilen ist [...], doch wird einhellig betont, dass
dies primär bedeute, dass auf typische berufsbedingte Notwendigkeiten nicht
abzustellen sei und auch nicht darauf, zu welchem Zweck die Körperteile oder
Sinnesorgane eingesetzt würden". Darauf aufbauend führt der OGH weiter
aus: "Die generalisierende, abstrakte Betrachtungsweise zur Ermittlung
des Invaliditätsgrads in der Unfallversicherung bezieht sich nur darauf, dass
individuelle Erfordernisse des Berufs oder besondere Fähigkeiten, soweit sie
medizinisch keine Bedeutung haben, außer Betracht zu bleiben haben". Die Beurteilung von Unfallfolgen an einer "abstrakten Durchschnittperson" findet dort ihre Grenze, wo es um eine individuelle berufliche Beeinträchtigung geht. Die körperliche Beeinträchtigung ist jedoch sehr wohl an der konkreten vor dem Unfall vorgelegenen Konstitution des Betroffenen zu messen. In dieser Hinsicht hat daher das Berufungsgericht nach Auffassung des Obersten Gerichtshofes eine falsche Rechtsansicht vertreten und war die Rechtsansicht des erstinstanzlichen Gerichtes richtig: "Das bedeutet für den vorliegenden Fall, dass der Ermittlung des Invaliditätsgrads beim Kläger seine konkrete Funktionsbeeinträchtigung auf Grund eines Vergleichs zwischen der Beweglichkeit des rechten und linken Kniegelenks zugrunde zu legen ist". Für den
Versicherungsschutz einer privaten Unfallversicherung hat dieses Urteil vor
allem in zwei Richtungen eine erhebliche Bedeutung: - Bei der Beurteilung der durch den Unfall verursachten Invalidität ist immer von der vorherigen individuellen Konstitution und Beweglichkeit des Betroffenen auszugehen. War jemand bisher überdurchschnittlich beweglich und ist durch den Unfall dessen Beweglichkeit auf das Durchschnittsmaß gesunken, so hat die Unfallversicherung trotzdem für diese Beweglichkeitsdifferenz den entsprechenden Ersatz zu leisten. Allerdings kann sich das auch zum Nachteil des Versicherten auswirken, wenn seine individuelle Konstitution auf Grund etwa krankheitsbedingter Abnützungen oder schon früher erlittener Unfälle unter dem Durchschnitt gelegen hat: Auch in diesem Fall ist seine individuelle Vorsituation als Maßstab für die durch den versicherungsrelevanten Unfall erlittene Beeinträchtigung heran zu ziehen, und die Unfallversicherung wird eine geringere Entschädigung zu leisten haben. - Eine etwaige Beeinträchtigung im konkreten Beruf des Betroffenen hat außer Betracht zu bleiben. Ein Zahnarzt, Pianist oder Feinmechaniker, welcher vor allem auf das Kapital seiner Finger und deren Feinmotorik angewiesen ist, tut somit gut daran, seinen Unfallversicherungsvertrag in der Weise adaptieren zu lassen, dass etwa den (sonst relativ gering bewerteten) Fingern ein höherer Invaliditätsgrad zugeordnet wird.
© Wilfried Pecka |
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